http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/17.10.2004/1425070.asp
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„Diese Niederlage war mein größter Erfolg“
Der Tennisprofi Nicolas Kiefer galt als arrogant und unnahbar. Dann verlor er das olympische Doppelfinale und bewegte die Nation, weil er vor laufender Kamera weinte. Ein Gespräch mit einem Gewandelten.
Herr Kiefer, das Finale im Tennisdoppel war einer der emotionalen Höhepunkte dieser Olympischen Spiele, ein Drama mitten in der Nacht. Vier Matchbälle hatten Sie und Rainer Schüttler gegen die Chilenen Nicolas Massu und Fernando Gonzales und haben doch noch verloren. Wie oft denken Sie daran?
Eigentlich jeden Tag. Wenn ich in meine Wohnung komme, ist das Erste, was ich sehe, meine Silbermedaille.
Wo hängt sie denn?
Das ist verschieden. Meistens habe ich sie im Wohnzimmer, aber auch mal im Arbeitszimmer oder im Schlafzimmer. Ich nehme sie immer dahin, wo ich gerade bin. Dann gucke ich sie an und denke: Silbermedaille – es hätte ja auch eine andere Farbe sein können. Aber was wäre denn, wenn wir 6:1, 6:1, 6:1 gewonnen hätten? Dann hätte ich bestimmt nicht diese Emotionen erlebt.
Wieso war dieses Spiel auf einmal so gefühlsbeladen? Für Tennisspieler sind Olympische Spiele doch eher unwichtig.
Auf Athen habe ich mich eigentlich am meisten gefreut, weil ich Pins tauschen kann, aber nicht, weil ich dort Tennis spiele. Ich kannte das schon aus Sydney: Jedes Land hat seine eigene Anstecknadel, und die tauscht man mit Athleten aus anderen Ländern. Im Olympischen Dorf habe ich mich gleich so wohlgefühlt, weil die ganze Mannschaft zusammen war. Ich kannte vielleicht zehn Leute. Aber alle hatten diesen Deutschland-Anzug an, und du hast gesehen, wer deine Leute sind. Mit dem Finale konnte ich erst gar nichts anfangen. Ich war in so vielen Endspielen, aber diesmal habe ich kein richtiges Gefühl dafür bekommen, was das bedeutet. Erst eine Viertelstunde vorher ist mir bewusst geworden, dass es um tierisch viel geht.
Können Sie sich noch an das Ende des Spiels erinnern?
Matchball, der Return vom Rainer geht raus, und dann… Wir konnten gar nichts sagen, wir sind direkt in die Kabine, Schläger zertrümmert, das volle Programm. Normalerweise versuche ich immer ruhig zu bleiben nach einer Niederlage. Aber wenn ich noch mehr Schläger gehabt hätte, hätte ich sie alle zertrümmert.
Dann kam die Siegerehrung.
Am liebsten wäre ich gar nicht rausgegangen. Auf dem Platz denkst du: Das kann gar nicht sein, wenn du einen von den vier Matchbällen machst, dann stehst du vor dem Podest in der Mitte! Dann gehen wir auf den Platz, und stehen hinter diesem Scheiß-Silbermedaillending. Ich weiß nicht, wie viel Liter Wasser ich geheult habe.
War es Ihnen unangenehm, dass so viele Menschen Sie weinen sahen?
Am liebsten hätte ich nicht geweint, aber das ging nicht. Ich konnte es nicht zurückhalten. Mir ist so etwas noch nie passiert. Ich wollte unbedingt diese Goldmedaille. Dieser Passierball bei 6:2 im Tiebreak, der erste Matchball. Der Aufschlag kommt zu mir, und ich sag zum Rainer: Pass auf, du gehst durch, wenn ich cross returniere. Und Gonzales zieht volles Rohr durch und spielt ihn auf die Linie. Dieser Ball, das kann ein Homerun werden, der kann ein Riesenstück ins Aus gehen oder aber ein ganz kleines Stück - aber nein, er trifft die Linie. So viel hat gefehlt (schnippt mit den Fingern). Das ist das Enttäuschende.
Wie oft haben Sie sich das Spiel seitdem auf Video angeschaut?
Ich weiß nicht wie oft. Aber der Ball geht nicht aus, er ist immer wieder auf der Linie. Den kann ich nicht rauslügen.
Hat sich durch dieses Erlebnis von Athen Ihr Verhältnis zu Rainer Schüttler verändert?
Zum ersten Mal danach haben wir uns in New York gesehen bei den US Open. Ich komme in die Kabine, sehe den Rainer und denke, was mache ich denn jetzt? Der Rainer hat wahrscheinlich gerade das Gleiche gedacht. Ich gucke ihn an, er guckt und fängt erst einmal an zu lachen. Das war das Erste. Wir haben einfach nur gelacht und gesagt: Hey, Silbermedaille, war eng, der Volley hier und da. Was willst du machen? Schade ist, dass wir nach dem Finale nicht die Zeit hatten, das richtig zu feiern. Nicht nur mit dem Rainer. Dass man nicht einmal mit der ganzen Mannschaft zusammensitzt und feiert, anstößt.
Wären Sie überhaupt in der Stimmung gewesen, um zu feiern?
In dem Moment nicht. Das war eine komische Situation. Wir haben alle zusammen im Olympischen Dorf um vier Uhr nachts in der Mensa gegessen, diesem Riesenraum, der war so groß wie zwei, drei Fußballfelder. Unser Silbermedaillenmahl war ein Stück Pizza und Rippchen, angestoßen haben wir mit einer Cola.
Haben Sie denn beim Essen geredet?
Rainer und ich konnten nicht reden. Wir haben uns angeguckt und nur den Kopf geschüttelt. Ich hatte nicht geschlafen seit dem Morgen. Die Medaille hatte ich in meiner Tennistasche. Drei Stunden später ging schon mein Flug zurück nach Deutschland. Da saß ich dann in der Wartehalle des Flughafens und habe gemerkt: Ich werde müde. Und bin eingeschlafen. Die Hand hatte ich aber immer an der Tasche, damit keiner rangeht. Alle fünf Minuten bin ich aufgewacht, um zu schauen, ob noch alles da ist.
Da war die Medaille für Sie doch auf einmal wertvoll.
Da war sie mir sehr, sehr wertvoll. Aber ich konnte mich noch nicht damit identifizieren, auch weil ich nicht Gold gewonnen hatte. Dann bin ich nach Hause gekommen, meine Freundin war da, meine Eltern und viele Bekannte. Alle wollten die Medaille sehen. Am nächsten Tag bin ich gleich nach New York zu den US Open. Dann habe ich erst gemerkt, wie wichtig eigentlich der Gewinn der Silbermedaille war. Ich war traurig, dass ich meine Medaille zu Hause gelassen hatte. Ich habe natürlich viele Fotos gehabt von meiner Medaille, die hatte ich immer bei mir und habe sie natürlich jeden Morgen und jeden Abend angeschaut. Das Erste, was ich gemacht habe, als ich aus New York wiederkam: direkt zur Medaille, erst mal angeguckt und umgehängt.
Haben Sie sich bisher verstellt? So wie nach dem Finale hat man Sie noch nie gesehen, Sie haben Ihr Innerstes nach außen gekehrt. Bisher galten Sie eher als unnahbar und auch als arrogant.
Klar war ich ein bisschen verschlossener, ein bisschen unsicherer. Aber ich bin älter und reifer geworden. Ich habe viele Gespräche mit Steffi Graf und Andre Agassi geführt. Im Februar oder März haben wir uns unterhalten. Ich hatte gerade eine schwere Phase, viermal hatte ich in der ersten Runde verloren. Steffi meinte einfach: Geh raus auf den Platz, hab' Spaß, genieß es. Dann kommt alles andere von ganz alleine. Das sagst du so einfach, habe ich dann zu Steffi gesagt, wie soll ich das umsetzen? Aber diese Gespräche haben mir sehr geholfen.
Hat Olympia Ihre Einstellung verändert, sei es zum Leben oder zum Sport?
Jetzt weiß ich, wenn ich morgens bei minus zehn Grad um sechs Uhr zum Laufen aufstehe, warum ich aufstehe und warum ich trainiere. Ich bin ja erst 27 und kann noch locker fünf, sechs Jahre spielen. Früher hatte ich zu viel von der Einstellung: Ich muss. Ich bin halt ein Energiebündel und ein Nervenbündel. Und manchmal will ich einfach zu viel. Aber dann kam Athen. Das ist mein größter Erfolg, den kann kein Grand-Slam-Titel übertreffen. In diesem Match sind so viele positive Dinge passiert, die ich für den weiteren Verlauf der Karriere mitnehmen kann.
Was sind denn diese Dinge?
Dass man durch Kämpfen viel erreichen kann. Wenn der Rainer platt war, habe ich ihn aufgebaut. Und wenn ich nicht gut war, hat er die Punkte gemacht.
Ist der Daviscup zu vergleichen mit Olympia, weil es auch um das Team geht?
Das war die größte Enttäuschung nach Athen, dass ich nicht beim Daviscup in Bratislava gegen die Slowakei mitspielen konnte. Ich hatte extra die Sachen waschen lassen, die ich auch in Athen anhatte. Beim Daviscup ist die ganze Mannschaft zusammen, da kommt der Olympiagedanke wieder. Dann habe ich mich bei den US Open im Achtelfinale gegen Tim Henman am Handgelenk verletzt und musste im fünften Satz aufgeben. Als ich zu Hause war, habe ich gleich angerufen und gesagt: Passt auf, ich kann nicht spielen, aber ich bin dabei, ich komme mit. Ich will das Team unterstützen.
Dabei hatten Sie früher gar keine Lust auf Daviscup.
Ich habe andere Prioritäten gesetzt. Es hat sich so entwickelt. Priorität haben jetzt Olympische Spiele und Daviscup. Das ganze Jahr bist du allein unterwegs, mal mit der Freundin, mal mit dem Trainer und dem Physiotherapeut, mit einem kleinen Kreis. Woche für Woche, Tag für Tag. In Athen habe ich gemerkt, wie schön es ist, wieder in so einer Mannschaft zu sein.
Wären Sie gerne Mannschaftssportler?
Sehr gerne. Bei Hannover 96 habe ich einmal mittrainiert, da hatte mich damals Fredi Bobic eingeladen. Mein Traum ist, irgendwann ein Spiel in der Bundesliga zu machen, einfach für zehn Minuten eingewechselt zu werden, schön Rechtsaußen. Ich habe ja Fußball bis zur C-Jugend gespielt. Dann ging es darum: Niedersachsenauswahl oder Tennis? Da stand ich mit 15 oder 16 zum ersten Mal vor einer großen Entscheidung. Ich habe gedacht, Fußball ist vielleicht ein bisschen gefährlich, wenn sie so reingehen.
Sie wollen noch ein paar Jahre Tennis spielen. Haben Sie das Spiel Ihres Lebens nicht schon gemacht?
Emotional gesehen auf jeden Fall. Dass in einem Match so viele Höhen und Tiefen vorkommen, das kann ich jetzt schon sagen, wird nie wieder geschehen.
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